Vor lauter Sorge vergessen Schwangere oft, sich über ihr Glück zu freuen

Freut euch!

Schwangere wollen alles richtig machen und sehen überall Gefahren. Zu viel Sorge trübt das neue Glück

VON MAGDALENA HAMM – DIE ZEIT N° 5 / 2017

Das schlechte Gewissen beginnt für viele Schwangere bereits mit einer der ersten Fragen vom Frauenarzt: »Nehmen Sie schon Folsäure?« Denn oft lautet ihre Antwort »Nein«. Warum sollten sie auch Folsäure nehmen, vor allem dann, wenn sie ihr erstes Kind erwarten und den Nachwuchs nicht akribisch geplant haben. Doch mit der Frage schleichen sich Gewissensbisse, Unsicherheit und die erste Sorge in das neue Glück: Gefährde ich mein Kind? Diese Frage kann oft nicht eindeutig beantwortet werden, so wie bei der Folsäure: Schlimm ist es nicht unbedingt, wenn Frauen das Vitamin nicht eingenommen haben, aber je früher sie anfangen, es zu schlucken, desto besser ist es für die Entwicklung des Kindes.

Die Verunsicherung der werdenden Mütter hängt paradoxerweise mit dem Wissenszuwachs der Geburtsmedizin in den vergangenen Jahren zusammen: Je mehr man über die Risikofaktoren in der Schwangerschaft weiß, desto mehr Verhaltensregeln ergeben sich für die Frauen – und desto öfter geraten sie in Situationen, in denen sie fürchten, etwas falsch zu machen.
Vor allem beim Essen wird es kompliziert, will man alle Regeln akribisch beachten: »Nicht erhitzter Fisch, nicht erhitztes Fleisch und rohe Milchprodukte können Keime enthalten, die bei einer Infektion dem Baby schaden oder auch eine Frühgeburt auslösen können. Sie sind definitiv in der Schwangerschaft tabu«, sagt der Sprecher des Berufsverbands der deutschen Frauenärzte, Christian Albring. Klingt simpel, ist es im Alltag aber nicht: Ist der Schafskäse im Hirtensalat beim Türken um die Ecke womöglich aus Rohmilch gemacht? Wurde der Räucherlachs in der Pasta beim Italiener kalt oder heiß geräuchert? Kann sie überhaupt noch guten Gewissens in Restaurants gehen, wenn sie überall damit rechnen muss, sich einen gefährlichen Keim einzufangen?

Kein Schluck

Alkohol sollten Frauen in der Schwangerschaft keinesfalls trinken, sind sich die meisten Experten mittlerweile einig. Denn beim Alkohol konnte bisher keine Dosis-Wirk-Beziehung festgestellt werden: Man kann also nicht davon ausgehen, dass kleine Mengen weniger schädlich sind, sondern muss damit rechnen, dass jede Dosis großen Schaden anrichten kann. Trinkende Schwangere setzen ihr Ungeborenes dem Risiko eines ausgeprägten oder partiellen Fetalen Alkoholsyndroms (FASD) aus. Unter diesem Begriff werden alle alkoholbedingten Schädigungen zusammengefasst, die beim Kind auftreten können, etwa ein zu kleiner Kopf, Herzfehler, ein reduziertes Hör- und Sehvermögen, eine gestörte Feinmotorik oder verminderte Intelligenz.

Ähnlich ist es bei Alkohol und Zigaretten. Die Grundregel ist klar: Schwangere sollten darauf ganz verzichten. »Alkohol ist in jeder Dosierung ein Nervengift. Jede einzelne Zigarette reduziert die Durchblutung in der Plazenta und kann dem Kind schaden«, sagt Albring. »Das Gleiche gilt für Passivrauchen.« (siehe Kasten)Und da wird es kompliziert. Denn die Absolutheit, mit der diese Regeln formuliert sind, und die Drastik der möglichen Konsequenzen lassen nur wenig Spielraum für Grauzonen – die sich im Alltag aber nun mal ergeben. Etwa bei der Abendplanung: Zwar kann die Schwangere ihre eigenen Gewohnheiten umstellen und auf Bier, Wein und Zigarette verzichten. Von ihren Freunden kann sie das aber nicht verlangen. Wenn die sich nun in einer Bar treffen, in der geraucht wird, stellt sich die Frage, ob sie überhaupt noch mitgehen kann – würde sie da nicht riskieren, ihr Kind durch den Rauch zu schädigen?

Wolf Lütje trifft bei seiner Arbeit immer wieder auf Frauen, die ihre Schwangerschaft vor lauter Sorge gar nicht mehr genießen können. Er ist Chefarzt in einer Hamburger Geburtsklinik und Präsident der Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe. »Viele meiner Fachkollegen haben einen Hang zum Katastrophisieren. Um sich selbst abzusichern, zählen sie den Patientinnen alles auf, was schiefgehen könnte. Dadurch entsteht bei denen oft der Eindruck, dass es allein in ihrer Verantwortung liegt, ob ihr Kind gesund zur Welt kommt.« Das sei aber nicht der Fall. »Selbst bei Schwangeren, die vermeintlich alles richtig machen, kann es zu Fehlentwicklungen kommen. Absolute Kontrolle gibt es nicht.«

WOLF LÜTJE, Chefarzt
Wenn eine Schwangere Appetit auf Räucherfisch hat, sollte sie ihn mit Genuss essen

Lütje geht es keineswegs darum, Risiken zu verschweigen oder zu verharmlosen, er plädiert nur dafür, die Frauen zu entlasten: »Ich sehe keinen Grund, warum eine Schwangere sich von ihren rauchenden Freunden isolieren und auf einen gelegentlichen Kneipenbesuch verzichten sollte.« Ein Problem gebe es doch erst dann, wenn die Frau selbst regelmäßig rauche oder mit einem starken Raucher zusammenlebe. Und selbst in diesem Fall spart Lütje mit zu strikten Forderungen. »Natürlich wäre es am besten, wenn beide Partner ganz aufhören würden, aber das ist nicht immer so einfach. Ich ermutige sie dann, zumindest stark zu reduzieren, und sage, dass jede Zigarette weniger ein Geschenk an ihr Kind ist.«

Auch beim Thema Ernährung entwarnt Lütje: »Wenn eine Schwangere Appetit auf Räucherfisch hat, sollte sie ihn mit Genuss essen und sich keinen Kopf darum machen, ob der nun heiß oder kalt gegart wurde.« Der Fisch enthalte wertvolle Fette und Jod, sodass der Nutzen im Zweifel höher einzustufen sei als die Gefahr, sich mit einem Keim zu infizieren. »Das Risiko halte ich für äußerst gering«, sagt Lütje.Ein Blick in die Statistik gibt ihm recht. Die zwei Lebensmittelinfektionen Listeriose und Toxoplasmose, die Ungeborene bedrohen könnten, sind meist nicht so gefährlich, wie viele denken. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung recht gering: In Deutschland gibt es ein paar Hundert Listeriosefälle im Jahr, etwa zehn Prozent entfallen auf Schwangere. Toxoplasmose ist etwas weiter verbreitet, wird jedoch nur dann zum Problem, wenn sich eine Frau während ihrer Schwangerschaft zum ersten Mal infiziert und ihr Immunsystem darauf noch nicht eingestellt ist. Laut einer Studie stecken sich in Deutschland jährlich etwa 6400 schwangere Frauen erstmals mit Toxoplasmose an, das entspricht einem Prozent. Die Infektion geht dann auch nur in einem Fünftel der Fälle auf das Baby über – bei dem es dann allerdings zu schweren Schäden kommen kann, vor allem am Gehirn.

Toxoplasmose sei am wirksamsten vorzubeugen, wenn die Schwangere rohes Fleisch vermeide und beim Umgang mit Haustieren besondere Hygiene einhalte.

Experten des Robert-Koch-Instituts (RKI) vermuten zwar, dass die Zahl der tatsächlich infizierten Schwangeren höher liegt, weil die Erkrankungen nicht immer erkannt werden. Trotzdem halten sie beide Infektionen für so selten, »dass Frauen sich davon nicht abhalten lassen sollten, die Zeit der Schwangerschaft positiv zu erleben und zu genießen«. Das ohnehin schon geringe persönliche Listerioserisiko lasse sich durch das Essverhalten auch kaum weiter senken, da diese Bakterien fast überall zu finden sein könnten, nicht nur in rohen tierischen Lebensmitteln, sondern auch in Salaten, auf Obst und selbst in Tiefkühlprodukten. Wo sollte man da aufhören zu verzichten? Einer Ansteckung mit Toxoplasmose sei laut RKI am wirksamsten vorzubeugen, wenn die Schwangere rohes Fleisch vermeide und beim Umgang mit Haustieren besondere Hygiene einhalte: Häufiger als in Lebensmitteln sind die Erreger nämlich in Kot von Katzen zu finden.

Auch bei der Nahrungsergänzung mit Folsäure lohnt sich ein Blick auf die Faktenlage. Zwar ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Einnahme dieses Vitamins das Risiko senkt, dass Neugeborene mit sogenannten Neuralrohrdefekten auf die Welt kommen, etwa einem offenen Rücken. Um diese schützende Wirkung optimal zu entfalten, müssten Frauen aber nicht nur während der ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft Folsäuretabletten schlucken, sondern schon mindestens vier Wochen vor der Befruchtung – so lautet auch die offizielle Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Davon wissen nur die wenigsten Frauen, und dementsprechend wenige halten sich daran. Zudem sind etwa die Hälfte aller Schwangerschaften ungeplant und werden oft erst Wochen oder sogar Monate nach der Befruchtung bemerkt. Befragungen legen nahe, dass nur etwa fünf bis zehn Prozent aller Frauen schon Folsäure zu sich genommen haben, bevor sie schwanger wurden. Trotzdem liegt die geschätzte Häufigkeit von Neuralrohrdefekten in Deutschland bei nur ein bis zwei Fällen pro 1000 Geburten. Das Risiko ist also überschaubar.

Frauenärzte könnten ihren Patientinnen viel Kopfzerbrechen und Unsicherheit ersparen, wenn sie solche Einordnungen mit einbezögen bei der Aufklärung über Risiken. Leider geschieht das zu selten. Wolf Lütje sieht zudem das Problem, dass andere Risikofaktoren in der Schwangerschaftsvorsorge zu wenig angesprochen würden. Etwa bei der Ernährung: »Ein häufiges Problem ist, dass Frauen nicht ausgewogen oder zu viel essen«, so Lütje. Eine solche Fehlernährung könne sich auf die genetische Ausstattung des Babys auswirken. So neigten etwa die Kinder von stark übergewichtigen Frauen dazu, später ebenfalls dick zu werden oder eine Diabeteserkrankung auszubilden. Bisher vernachlässigt sei die psychosoziale Verfassung der Frau, »die schlichte Frage, wie es der Schwangeren geht«, so Lütje. »Lebt sie in einer stabilen Beziehung, ist sie finanziell abgesichert, gibt es psychische Vorerkrankungen?« Danach sollten Frauenärzte seiner Meinung nach verstärkt fragen und auf Beratungs- und Hilfsangebote verweisen, wenn sie es für nötig halten. »Das wäre wohl die nachhaltigste Maßnahme dafür, dass Kinder auch nach der Geburt gesund und munter aufwachsen.